Objekt des Monats März 2022
Buchschreiben mit Tinte war Glücklichsein


Wilhelm Ostwald absolvierte seine ausgesprochen umfangreiche schriftliche Arbeit eigenhändig mit der Feder und Tinte. Ganz unter dem energetischen Imperativ, war es Ostwalds Bedürfnis, dies möglichst reibungslos zu erledigen. Er diktierte ungern einem Sekretär oder Stenographen, da ihm die Abhängigkeit von anderen Menschen oft unerträglich erschien. Die Schreibmaschine war bis zum Ende des 19. Jahrhunderts außerhalb der kaufmännischen Kreise auch in Deutschland noch wenig verbreitet. Der hohe Preis verbot den meisten Schreibern Gedanken an eine solche Maschine. So war Ostwald auf Feder und Tinte angewiesen, denn selbst der trockene Tintenstift war noch lange nicht erfunden. Später gab es im Haushalt Schreibmaschinen, doch schrieb Ostwald bis zuletzt viel und gern mit der Hand.
In seinen Dorpater Jahren von 1872 bis 1882 – zunächst als Student, anschließend als Privatdozent – sah er sich veranlasst, Untersuchungen über Federn, Papier und Tinte anzustellen, um die Kombination zu finden, welche das beste Schreiben ermöglichte. Ostwald erfand allerlei Vorrichtungen, um die beim Eintunken gefasste Tintenmenge möglichst groß zu machen. Er wählte Federn mit breiter oder gerundeter Spitze, ersetzte die Eisengallustinte, welche die Feder anätzt, durch neutrale Farbstofflösungen, verhinderte Krustenbildung durch Glyzerinzusatz und benutzte starkes, glattes Papier für optimierte Schreibergebnisse: „[…] die Familie jubelte, ein großer Stoß möglichst glatten Papieres in handgerechter Größe wurde beschafft und eine große Flasche Tinte selbst gemacht, natürlich mit „Tintentrost“, dem erprobten Benetzungsförderer.“
Ostwalds Tochter Grete erinnert sich nur zu gut ans väterliche Schreiben: „[…] denn noch heute vergegenwärtige ich mir seine meist gebräunte, fleischige Hand, die den Füllfederhalter mit fast gestreckten Fingern locker hielt und leicht und schwingend führte. Die Tinte war violett und bronzierte, wo sie an der Feder oder an dickeren Stellen antrocknete; sie hatte einen besonderen Geruch, den ich heute noch wiedererkennen würde. Die Feder war selbst erfunden und trug eine zugeschnittene angeklammerte Zinnfolie auf der Unterseite, so daß ein kleiner Tintensammler entstand und das häufige Eintauchen fortfiel.“
Und auch Ostwalds Freund und Chemiker Sir William Ramsay bewunderte ihn und schrieb 1906: „Ich weiß nicht, wie Sie immer noch fortfahren können mit einem so riesigen Schreiben, es muß eine ungeheure Arbeit geben, doch sind Sie nicht wie die andern Menschen, Sie haben eine so fazile Feder und eine so rasche Gedankenkraft. Sie haben mehr Tinte fließen lassen als irgendjemand außer dem älteren Dumas.“
Quelle: Lebenslinien von Wilhelm Ostwald, Mein Vater von Grete Ostwald